Ausschnitte aus 8 Wochen Lockdown
Von Ina Krohn, Uwe Pinsler, Johann Juhnke, Malte Fiebing-Petersen und Janko Sprenger
Ungewohnte Wochen liegen hinter uns. Viel Neues gab es zu regeln, viele Sorgen zu zerstreuen. Aus den Ängsten der ersten Tage ist eine Kraft geworden, gemeinsam diese neue Realität zu bestreiten. So manch dringende Frage oder Bitte blieb in Behörden und Ämtern unerwidert. So verließen wir uns auf die Fähigkeit, die uns als private Träger mit Sicherheit vor anderen auszeichnet: schnelle und flexible Entscheidungen zu treffen und dabei auch unkonventionelle Wege zu beschreiten mit unserem KnowHow und unseren Ressourcen. Da wurde die Schule kurzerhand komplett mitsamt Lehrer in das Wohnzimmer der Wohngruppe umgezogen, die Dienstberatung fand per Videokonferenz ohne persönliche Anwesenheitspflicht statt, das große gemeinsame Seifenkistenrennen wurde zum Fernduell der Miniseifenkisten und vieles mehr.
Heute, am Tag der Befreiung, dem 8. Mai, lässt sich langsam wieder Normalität erahnen, für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch für die von uns betreuten Kinder und Jugendliche. Fast fühlt man sich schon ein bisschen befreit, auch wenn die vielen Masken im Alltag das Lächeln vermissen lassen. Viele Kinder haben in den vergangenen 10 Tagen der Lockerungen zum ersten Mal seit Wochen wieder real ihre Eltern gesehen, und nicht nur im Laptop oder Tablett per Videotelefonie. Auch das eine ganz neue Erfahrungen für Kinder, Mitarbeitende und Eltern. Neue Ideen, aus der Not geboren, die sicherlich bleiben werden.
Die folgenden Momentaufnahmen schildern die ersten Wochen dieser Coronazeit in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe Jochen Sprenger:
„Freitag der 13.“
(Malte Fiebing-Petersen, Leitung Kieler Sprotte)
6:00 Uhr. Der Radiowecker springt an. Und wieder sind die Nachrichten voll von der so genannten „Corona-Krise“. „Corona-Krise“? Nein, die hat nichts mit der keifenden Nachbarin zu tun, die im Dauerstreit mit ihrem Mann ist – die heißt nämlich „Corinna“! Ich mache die Augen auf. Es ist Freitag, der 13. März 2020. Wenn es jemanden gab, der sich nie irgendetwas aus kreuzenden schwarzen Katzen, dem Hindurchlaufen unter Leitern oder eben einem Freitag, den 13. gemacht hat, dann war ich das. Nach diesem Freitag, den 13. sollte sich meine Einstellung ändern.
Was der Tag wohl bringen wird? In den letzten Tagen tröpfelten gefühlt stündlich neue Informationen durch die Medien. Aufmerksam verfolgte jeder unsere europäischen Nachbarn, allen voran Österreich, die gefühlt immer ein paar Tage vor uns Deutschen Maßnahmen beschlossen, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Hatte ich vor wenigen Wochen zugegebenermaßen „diesen Virus“ noch als „ganz weit weg“ empfunden (irgendwelche Lebendtiermärkte in der chinesischen Provinz standen nicht gerade ganz oben auf meiner Reiseliste), so dämmerte mir nun seit ein paar Tagen, dass da etwas Gewaltiges auf uns zurollt, was uns alle lange beschäftigen wird.
In den letzten Tagen hatte es – teilweise mehrmals täglich – Abstimmungen mit meinem Träger und anderen Hausleitern des Unternehmens gegeben. Es wurden erste Notfallpläne geschrieben – immer in mehreren Varianten, die kurz darauf schon wieder obsolet sein konnten, weil es schon wieder neue Informationen seitens der Bundes- oder Landesregierung, des örtlichen Gesundheitsamtes oder des Landesjugendamtes gab.
Gespannt warte ich an diesem Freitag auf die Pressekonferenz, in der unsere Bildungsministerin verkünden wird, ob die Schulen ab kommenden Montag geschlossen werden müssen oder nicht. Diese ist aber erst für den Nachmittag geplant und ich frage mich, wer die grandiose Idee hatte, an einem Freitagnachmittag eine Entscheidung zu verkünden, die dann für den Montag darauf gelten soll. Gerne würde ich mich nun mit einem überzeugten Vertreter des Föderalismus anlegen und ihm meine Argumente an den Kopf werfen, warum der Bildungsbereich verdammt nochmal keine Länder-, sondern zwingend eine Bundesangelegenheit sein müsste. Ich finde aber keinen – und eigentlich habe ich dafür auch gar keine Zeit.
In meiner lerntherapeutischen Einrichtung bin ich für insgesamt 55 Schülerinnen und Schüler an zwei Standorten, die in 22 unterschiedlichen Wohngruppen oder Elternhäusern leben, zuständig. Wird es gelingen, noch alle rechtzeitig zu informieren? Ja über was überhaupt? Ich ahne, dass meinen Kollegen und mir ein unruhiger Tag und vermutlich ein emsiges Wochenende bevorsteht. Also tue ich, im Büro angekommen, das, was ich die letzten Tage auch schon getan habe: Ich aktualisiere meine Notfallpläne – wieder in mehreren Varianten selbstverständlich – und warte förmlich darauf, diese kurz darauf wieder über den Haufen zu werfen.
Zumindest in einer Sache herrscht Klarheit: Mein Träger möchte, dass wir uns – auch wenn wir rein rechtlich keine „Schule“, sondern eine „Tagesgruppe“ und „teilstationäre Jugendhilfemaßnahme“ sind – an die Vorgaben des Landes bzgl. der Regelschulen halten. Heißt: Müssen die Regelschulen schließen, machen auch wir vorerst dicht. Durch die Größe der Einrichtung, Vielzahl der Schülerinnen und Schüler und den unterschiedlichsten Lebensräumen, aus denen die Schülerinnen und Schüler jeden Morgen zu uns kommen, ist klar: alles andere wäre nicht vertretbar.
Diese Entscheidung empfinde ich auf der einen Seite als Erleichterung, da zumindest in diesem Punkt Klarheit herrscht. Aber: Wie werden die kommenden zwei Wochen bis zu den Osterferien dann ablaufen? Unsere Arbeit lebt von der direkten Interaktionen mit unseren Schülerinnen und Schülern – „face to face“ wie es Neudeutsch heißt. Und diese Interaktion läuft seit vielen Jahren sehr erfolgreich. Stolz führten wir in den letzten Jahren unzählige vom Regelschulsystem Abgeschriebene zu ihren Schulabschlüssen. Und nun?
Die Schulstunden des Vormittags verstreichen, die Klassen präsentieren die Ergebnisse der Projektarbeit der Woche vor der Schülerschaft. Auch unter den Kindern gibt es aber nur das eine Thema. Manche wirken verunsichert, manche geben sich ganz cool. Alle ahnen jedoch, dass etwas in der Luft liegt. Die Uhr zeigt 11:57 Uhr. In 48 Minuten schicken wir alle in ein ungewisses Wochenende. Dann plötzlich eine Push-Nachricht auf dem Handydisplay: „In Schleswig-Holstein bleiben ab kommenden Montag die Schulen bis in die Osterferien hinein geschlossen!“ Schulleiter und Elternverbände hatten dem Bildungsministerium klar gemacht, dass sie nicht erst am Nachmittag mit ihrer Entscheidung an die Öffentlichkeit gehen können. Nun war es also klar: einer meiner Notfallpläne wird nun greifen. Wie in einem Bienenstab schwärmen die Lehrerinnen und Lehrer aus, der Kopierer wird schlagartig zum heiß umkämpften Objekt der Begierde unter den Kollegen – schließlich gibt es nun die Order: „Allen Schulmaterial für mindestens zwei Wochen mitgeben!“
Und so endet dieser Freitag, der 13. für alle anders, als sonst. Wie immer trifft sich die gesamte Schüler- und Lehrerschaft um 12:30 Uhr in der kleinen Aula, um zu erfahren, welche Klasse in dieser Woche durch ihre gesammelten Schulpunkte und die beste Projektpräsentation am Vormittag den Wochensieg errungen hat. So kurz wie heute fasste ich mich dabei noch nie – nach der sonst gern von mir aufgebauten Spannung bei der Verkündung ist mir heute nicht.
Es ist 12:35 Uhr. Die Schülerinnen und Schüler erfahren von mir, dass wir uns mindestens für fünf Wochen nicht sehen werden – das Wort „Coronaferien“ versuche ich zu vermeiden. Die Hälfte der Schülerschaft bricht in Jubel aus – die andere wird ganz still. Ob sie schon ahnen, was da auf sie zukommen wird? Noch scheinen Begriffe wie Klopapier hamstern, Abstandsregel oder Mundschutz „ganz weit weg“…
31. März 2020: Ein Camp gegen Corona
(Uwe Pinsler, Hausleitung WG Oranienburg)
Die Coronasperre ist mittlerweile drei Wochen alt und für die 10 Kinder unserer Wohngruppe im Alter von 10 bis 15 Jahren sind alle bevorstehenden Beurlaubungen und Osterferienfahrten natürlich abgesagt. Nach der ersten Panik müssen nun konkrete Antworten her: Was machen wir mit den Kindern ohne Schule den ganzen Tag? Wie halten sie das durch, ohne Beurlaubungen oder Besuche der Eltern? Wie sollen wir nur die Ferien bestreiten? Wo sollen die Kids ihr Taschengeld ausgeben?
Da wir die Außenkontakte auf ein Mindestmaß reduzieren mussten, übernimmt den Einkauf nun komplett unsere Hauswirtschaftskraft. Wenn die Kinder nicht mehr in die Geschäfte dürfen, müssen die Geschäfte eben zu den Kindern kommen. Also haben wir in einem ungenutzten Raum ein Kiosk eingerichtet. Diesen leiten und führen einige der Kinder. Sie kümmern sich um die Warenbestellung, Öffnungszeiten und besprechen Preise mit den Erwachsenen. Im Kiosk kann für Geld und sogenannte „Oritaler“ (Teil unseres Tokensystems) eingekauft werden. Da die Kinder selbst für die Warenbestellung bei unserer Hauswirtschaftskraft verantwortlich sind, bietet der Kiosk natürlich ein tolles Sortiment an Süßigkeiten, Chips und Getränken und ist ein voller Erfolg. Die Kids sind begeistert und nutzen die vielen Gelegenheiten „Oritaler“ zu erhalten. Die wöchentliche Inventur belegt, dass die verantwortlichen Kinder ihre Aufgabe sehr genau nehmen und gewissenhaft arbeiten.
Beim Tagesablauf achten wir in dieser Zeit natürlich noch mehr auf Strukturen, da die Außenstrukturen wie Schule und Sportvereine fehlen. So wird nun viel mehr Zeit gemeinsam mit Spielen und Projekten verbracht. Tatsächlich ein Gewinn für Kinder und Mitarbeitende! Das Provisorium des Kiosk konnte schnell in die neugebaute Hütte umziehen, die nun noch auf die gemeinsame Graffitigestaltung wartet.
Auf der großen Gartenfläche bauen wir Zelte auf und ein richtiges Lager ist ins Leben gerufen worden, mit Lesezelt, Bastelzelt und Kochzelt. Schnell entsteht der Wunsch, auch im Zelt übernachten zu dürfen. Das Abenteuer beginnt und die Kinder prägen den Begriff „Camp Corona“. Nicht zuletzt die von unserem Träger organisierte Hüpfburg rundet das Angebot ab.
Nach anfänglichen Bedenken, ob die lange Zeit ohne Heimfahrten und Ferien mit den Kindern zu schaffen sei, sind jetzt alle Kollegen begeistert, wie sich in dieser ungewohnten Zeit die Gruppe entwickelt hat. Streitigkeiten halten sich in Grenzen, sind eher weniger, als in „normalen Zeiten“, die Stimmung ist fast durchweg gut und die Gruppe ist in dieser Zeit sehr zusammengewachsen. Wir wollen natürlich nicht nochmal eine Coronakrise erleben, aber diese Zeit ist eine wertvolle Erfahrung für unsere WG, für Erwachsene wie für die Kinder, welche sie einfach super meistern.
11. April 2020: Der Osterhase in Quarantäne?
(Johann Juhnke, Hausleitung Intensiveinrichtung Integro)
Ostern steht vor der Tür und da niemand die Osterfeiertage bei den Eltern verbringen darf brauchen wir eine neue Idee für das traditionelle Ostereiersuchen. Trotz Virus und Isolation wollen wir unseren Kindern diese Freude gönnen. In den Wochen vor Ostern gibt es so manches heimliche Telefonat und schnell wird mit den Eltern ein Plan geschmiedet und der Garten der Einrichtung in Planquadrate aufgeteilt. Wie gut, dass wir in diesen Wochen so viel Zeit haben, den Garten neu zu gestalten. Während wir mit den Kindern an der Havel entlang spazieren, machen sich die Eltern daran, Osterhase zu spielen und verstecken jeder in seinem Bereich des Gartens die Überraschungen für ihre Kinder. Als wir zurückkehren beginnt der Spaß und alle fangen an, nach ihren Geschenken zu suchen. Die Eltern bleiben in sicherer Entfernung zurück und genießen das Schauspiel. Die Freue ist groß, als alle Kinder ihre Geschenke gefunden hatten und begeistert Minidrohne, Roboterauto und ausprobieren durften. Und unsere Kids waren sich einig: wie gut, dass der Osterhase nicht in Quarantäne bleiben musste.
Ende April 2020: Tollkühne Helden mal nicht in ihren Seifenkisten
(Ina Krohn, therapeutische Leitung Oranienburg)
Seit 5 Jahren treffen sich die Bastler, Tüftler und tollkühnen Rennfahrer unserer Einrichtungen zum Seifenkistenrennen am Lindhöfter Strandweg und rasen dem Meer entgegen. Die Bratwürste waren bestellt, die Seifenkisten frisiert und die diesjährige Erlaubnis lag lange vor, aber in jeder Videokonferenz der letzten Wochen gab es immer noch diese eine Frage. Dürfen wir nach Lindhöft kommen und das Seifenkistenrennen durchführen? Alle hatten auf das Ende der Osterferien gewartet und darauf gehofft, dass nun wieder Normalität beginnen würde. Aber die Hoffnung wurde bitter enttäuscht, als das Ordnungsamt mitteilte, dass unsere Veranstaltung nicht stattfinden dürfe. Also musste eine Alternative gefunden werden und wir haben uns überlegt, unsere 25 Oranienburger Kinder und Jugendlichen zu einem Mini-Seifenkistenrennen aufzurufen. Dazu wurde verschiedenstes Material beschafft und dann starteten wir per Mail einen Aufruf zum Wettbewerb in unseren drei Oranienburger Einrichtungen.
Die Kinder und Jugendlichen unserer waren mit viel Elan und Ideenreichtum dabei. Viele unterschiedliche Fahrzeuge wurden konstruiert. Ein Teilnehmer baute sogar 4 Fahrzeuge.
In allen Häusern wurde fleißig gebaut, gesägt, geschraubt, geleimt, gefeilt und gehämmert und viele tolle Fahrzeuge wurden von der Idee in ein Ergebnis umgesetzt. In dieser Zeit suchten wir nach einem geeigneten Gelände, was wir auf einer Rad – und Fußgängerbrücke fanden. Außerdem wurden Regeln und ein Ablaufplan erstellt, welche per Mail in die verschiedenen Häuser geschickt wurden. Die drei Gruppen fanden sich zu unterschiedlichen Zeiten am Rennaustragungsort ein.
Die erste Gruppe “Wir 5Plus“ startete um 11:00 Uhr und stellte erstmal ihre Fahrzeuge vor. Jedes Fahrzeug sollte den vorgegebenen Maßen entsprechen und wurde entsprechend überprüft. Diese SÜV-Prüfung (Seifenkistenüberprüfungsverein) mitsamt Plakette kannten die Kinder schon vom realen Seifenkistenrennen der letzten Jahre.
Alle Fahrzeuge wurden den Maßen gerecht und durften an den Start gehen. Die Strecke war gut vorbereitet und übersichtlich. Gestartet wurde von einer Rampe. Die „Integro“ Gruppe startete um 11:30 Uhr und die „WG Oburg“ konnte um 12:00 Uhr ins Rennen gehen.
Zuerst durfte jeder Starter einmal Probe fahren. Gemessen wurde hierbei nicht die Zeit, sondern die zurückgelegte Strecke. Teilnehmer mit mehreren Fahrzeugen, mussten sich nach dem Probelauf für ein Fahrzeug entscheiden, was aufgrund der erzielten Fahrstrecken nicht schwierig war.
Nun wurde es spannend. Jeder hatte mit seinem Fahrzeug noch 2 Wettkampffahrten zur Verfügung. Bei einer Sturzfahrt durfte diese einmalig wiederholt werden. Gewertet wurde der beste Lauf, d.h. die längste zurück gelegte Strecke mit dem Fahrzeug. Auch der Probelauf konnte, wenn dabei das beste Ergebnis erzielt wurde, gewertet werden. Neben der Strecke gab es einen Boxenstopp, wo letzte Korrekturarbeiten mit Schleifpapier, Feilen, Schrauben, Akkuschrauber, Hammer und Nägeln vorgenommen werden konnten.
Für alle Teilnehmer gab es eine Urkunde mit der bescheinigten Strecke und einen Gutschein. Die längste zurückgelegte Strecke betrug 213 cm. Nach allen gefahrenen Rennen traf sich eine Jury, um das originellste, schönste Fahrzeug auszusuchen. Der Konstrukteur dieses Fahrzeuges erhielt für seine Leistung einen Minipokal. Alle hatten viel Spaß und erlebten Spannung. Die Kids und Jugendlichen äußerten nach dem Rennen den Wunsch nach einer Wiederholung oder ähnlichen Wettkämpfen z.B. mit selbstgebauten Flugzeugen oder Booten.
Wenn sich der Alltag eine Auszeit nimmt, lassen sich viele Erkenntnisse gewinnen. So mancher Kollege ist in dieser Phase über sich hinausgewachsen und hat ungeahnte Fähigkeiten entdeckt. Organisationstalent und Kreativität sind gefragt, aber auch Einfühlungsvermögen und Verständnis in den Phasen der Angst. Wir erleben viel Positives und die intensive individuell Zeit, die ausgiebig füreinander und miteinander verbracht wurde, wird sicherlich noch lange nachwirken.